Gute Winde und schlechte Winde
Einmal mit allem bitte: Die Herbstwanderfahrt auf der Havel hatte von Entzückung bis Erschöpfung alles zu bieten
Von Anja Haegele
Ende Oktober auf Wanderfahrt zu gehen birgt das Risiko schlechten Wetters. Ende Oktober nicht auf Wanderfahrt zu gehen, bedeutet, bis Ostern nur noch auf der Alster zu rudern. Keine Frage also für zehn Wanderfahrt-Aficionados, sich Jakob anzuschließen, um in den Tagen vor Halloween das Havel-Elbe-Dreieck abzurudern, von Rathenow nach Plaue an der Havel, dann nach Parey, dort auf die Elbe und über Tangermünde und Havelberg zurück nach Rathenow. 170 Kilometer durch herrlichste Brandenburger Landschaft (und ein Stück Sachsen-Anhalt ist auch dabei.)
Die Sehnsucht nach Weite, nach Horizont, Menschenleere und kräftigem Wind, der üble Gerüche vertreibt, war für Antonia, Katharina, Inga, Sabine, Anja, Adrian und Patrick schon am Hamburger Hauptbahnhof übermächtig, denn der RE der uns über Uelzen und Stendal nach Rathenow bringen sollte, war so überfüllt, dass ein Sitzplatz zwischen stehenden, schwitzenden und fluchenden Menschen schon ein echtes Privileg war. Susanne und Ingo, die mit dem Auto durch sintflutartigen Regen anreisten, hätten auf den Sturm, durch den sie fahren mussten, dagegen gerne verzichtet. Fahrtenleiter Jakob kam direkt aus Mallorca dazu. Über die Windverhältnisse an Bord des Fliegers ist Nichts bekannt.
In Rathenow wurden die Nachtlager auf Iso- und Yogamatten im Kraft- und Gruppenraum gerichtet, während Susanne und Antonia, die sich gleich am ersten Abend als Küchen-Chefinnen einteilten, hervorragende Spaghetti Bolognese für uns kochten.
Am nächsten Morgen riggerten wir die Boote, Heini Meurer und Remus, auf und diskutierten, welches der beiden wohl „besser“ laufen würde? Die leichtere, dafür aber schmalere Heini Meurer oder die breitere, schwerere Remus? Im Laufe der Tage würde sich herausstellen, dass Heini Meurer am Tag 1 und 2 langsamer war, Remus aber an Tag 3 und 4. Es lag wohl an den jeweiligen Mannschaften … Schwere Holzskulls hatten jedenfalls beide Boote, was einigen von uns heftige Sehnenscheiden-Entzündungen bescheren sollte.
Während wir riggerten und die Boote beluden, nieselte es noch – aber kaum waren wir unterwegs vertrieben gute Winde die Wolken und ließen sogar die Sonne immer mal wieder durch die Wolken blitzen. Die Laune war so prächtig wie unsere Route über die Havel, die sich hier in langen Kurven durchs Land windet und immer wieder fast Seebreite annimmt. Dutzende Schwäne begleiteten uns, Raubvögel standen am Himmel und immer wieder Reiher am Ufer. Abgesehen von ein paar Hausbooten (von denen die Remus eines in einem harten Rennen überholen konnte) und der Yacht „Santa Maria“ waren wir mit der Natur quasi alleine und sinnierten über Fragen wie diese: Wie würde es wohl einem Schwan, der von der Havel an die Alster migrierte, dort – unter den Fittichen von King Charles und dem Hamburger Schwanenvater als seinem hanseatischen Statthalter – gefallen?
Nicht mal der Ausfall der von Jakob versprochenen Bratwurst am leider geschlossenen Foodtruck in Havelsee konnte die Laune trüben. Zumal der kleine mittägliche Hungerast sofort nach Ankuft in Plaue reichlich ausgeglichen wurde: Dort wurde just an diesem Tag das herbstliche Abrudern gefeiert, für uns standen frisch gebrühter Kaffee und ein üppiges Kuchenbuffet schon bereit, kaum hatten wir die Boote aus dem Wasser gehoben. Abends grillten die Plauer köstliche, von einer thüringischen Hofschlachterei herangeschaffte Bratwürste für uns. Was für eine Gastfreundschaft!
Anderntags gab es Rühreier mit Speck zum Frühstück, schließlich stand uns eine eher harte Tour bevor: 53 Kilometer, zwei Schleusen bis zur Elbe – und unterwegs wahrscheinlich keine Chance auf einen bewirteten Boxenstopp. Also schmierten wir in weiser Voraussicht Notbrote. Landschaftlich war diese Tour bis zur Schleuse Parey eher langweilig, Kanal halt. Dafür waren die 20 abschließenden Kilometer auf der Elbe, bei kräftiger Strömung und zum kitschpinken Sonnenuntergang nach einem Regenguss eine würdige Entschädigung. Es war dunkel, als wir in Tangermünde anliefen, und die Mannschaft der „Heini Meurer“ froh, dass Antonia es mit einem beherzten Manöver geschafft hatte, eine unbeleuchtet Tonne an der Tanger-Mündung nicht zu rammen.
Im schicken, nach der Elbeflut im Jahr 2002 neu erbauten, Haus des Tangermünder Ruderclubs erholten wir uns schnell, vor allem weil Antonia und Susanne ein köstliches Curry kochten. Beim Essen beschlossen wir, auch am kommenden Abend in Havelberg wieder zu kochen. „Rahmkohl mit Kümmel, Speck und Kartoffeln!“ beschlossen Antonia und Susanne und schlugen Warnungen vor eventuell folgenden Verdauungsthemen in den Wind.
Der Montag stand – zunächst – im Zeichen der Entspannung. Wir besichtigten das mittelalterliche Tangermünde und waren von der Backsteingotik bezaubert. Es wurde fotografiert, Eis gegessen, lokales Kuhschwanzbier gekostet. Letzteres wird seit mehr als 1000 Jahren in Tangermünde gebraut und schmeckte einigen Ruderern so gut, dass sie Vorräte in die Boote luden, bevor wir gegen Mittag – bei prächtigem Sonnenschein und teilweise in kurzen Hosen und T-Shirts ablegten.
Knapp 40 Kilometer ging es elbabwärts, herrlich, bei einer Strömung von gut 6 km/h, Rückenwind und stahlblauem Himmel! Uns begleiteten tausende Vögel: Graugänse und Enten, die wir harmlosen Ruderer so häufig von ihren Rastplätzen aufscheuchten, dass wir erst ein schlechtes Gewissen, dann aber doch Zweifel an der Intelligenz der fliegenden Weihnachtsbraten hatten. Aber auch Kraniche gab es zu sehen, Kormorane und Reiher. Unser Hochgefühl war so groß, dass wir bis zur Havelmündung verdrängten, was noch vor uns liegen würde: Die Schleusensperrung von Havelberg.
Einen Kilometer vor dem Ziel mussten wir also umtragen – und was so lapidar klingt, erwies sich als beinahe abendfüllendes Programm. Fast zwei Stunden brauchten wir, um das Gepäck (samt Kuhschwanz-Bier!) auszuladen, die Boote via Böschungs-Slip aus dem Wasser zu heben (weil sie zu schwer waren, um sie über die schmale Stegtreppe im Gänsemarsch über Kopf zu tragen), sie auf dem Bootswagen, den wir – dem-Himmel-und-Ingo-der-ihn-in-Jakobs-Keller-gefunden-hatte-sei-Dank – dabei hatten einen Dreiviertelkilometer rund um die Schleuse zu fahren und wieder ins Wasser zu setzen. Um dann noch einen knappen Kilometer bis zur Ruderriege Havelberg zu rudern, wo wir abermals im Dunkeln, aber ob der gemeinsam gemeisterten Anstrengung zwar k.o. aber guter Stimmung, wieder anlegten.
In der Küche startete umgehend das große Kohl-Kochen, sodass schon kurz darauf am Bollerofen in der Teeküche gegessen werden konnte. Dazu gab es reichlich Wein und Kuhschwanz-Bier, zum Nachtisch Bananen in Butter und Honig gebacken und ein paar Runden „Werwolf“. Einer dieser perfekten Abende, der Wanderfahrten so herrlich macht!
Und deshalb tat auch der letzte Tag dieser Fahrt, die 46 Kilometer nach Rathenow im meist strömenden Regen, gegen fünf eisige Beaufort und fies starke Strömung, dem wunderbaren Gesamteindruck dieser Fahrt keinen Abbruch. Zumal es natürlich auch an diesem Tag kleine Herrlichkeiten zu sehen gab: Die Wildschwein-Rotte, die wir aufgescheucht hatten und die gut hundert Meter neben uns her galoppierten. Die perfekten Herbstlaubfarben und die vereinzelten Sonnenstrahlen, die die Pappeln am Ufer wie gleißendes Gold leuchten ließen. Und ganz bestimmt waren die Wildschweine daran schuld, dass uns den ganzen Tag ein leichter Hauch von Kohl-Pupsen umwehte.
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